54. Biennale von Venedig 2011

Im Januar 2010 veröffentlichte das Kuratorium 2ND ROMA PAVILION – CALL THE WITNESS den öffentlichen Aufruf an Künstler und Wissenschaftler, Vorschläge den zweiten Roma-Pavillon einzureichen, der im Rahmen der 54. Internationalen Kunstausstellung – Biennale von Venedig 2011 realisiert werden soll.

Zehn Künstler und Künstlergruppen wurden unter zahlreichen Einsendern ausgesucht. Dazu gehörten Lidija Mirkovic, Nils Kemmerling, Dzoni Sichelschmidt, Markus Westphalen und andere, die den Vorschlag HEARING OF eingereicht hatten. Sie wurden eingeladen, auf einem Arbeitstreffen am 23. und 24. Mai 2010 ihren Vorschlag zu präsentieren und mit den Kuratoren zu diskutieren.

Vorschlag: Videoinstallation HEARING OF von Lidija Mirkovic, Nils Kemmerling, Dzoni Sichelschmidt, Markus Westphalen u. a.
ENTWURF MÄRZ 2010

Kontext

Seit der Wettbewerb der Systeme 1989 zugunsten der westlichen Gesellschaftsordnung entschieden worden ist, haben Roma als größte ethnische Gruppe Europas von den Transitionen, Konsolidierungen und der Ausbreitung der Demokratie und ihrer Werte am wenigsten profitiert. Der Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft und das Elend, in welchem die meisten Roma leben, bestehen nach wie vor. Zudem werden sie nun häufiger Opfer rassistischer Übergriffe, von Diskriminierung oder gar politisch-juristischer Maßnahmen demokratischer Staatsordnungen. Schlimmer noch: pogromartige Ausschreitungen und erkennbar rassistisch motivierte Morde an Roma geben der Situation, in der sie leben, eine neue negative Qualität. All diese Vorfälle werden von den Medien thematisiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch eine allgemeine gesellschaftliche Empörung oder gezieltes politisches Handeln bleiben aus. Künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema, von Roma oder Nicht-Roma, fehlen ebenso beinahe vollständig.

Projektidee

Aus Anlass ihres ersten Amtsjubiläums im August 2009 hielt die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, eine Rede vor dem Human Rights Council in Genf. Sie qualifizierte die Lage der Roma als fatal und verurteilte die Diskriminierung von Roma in 17 Ländern Europas. Direkt angesprochen wurde die Benachteiligung bzw. Gefährdungslage von Roma in Ungarn, der Slowakei, Italien, Bulgarien, Tschechien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Litauen, Polen, Portugal, Rumänien, Serbien, Spanien, Slowenien und Schweden. Genau diese Situation der Roma wollen wir in einer Installation thematisieren, die im Zwischenraum zwischen Dokumentation und Fiktion angesiedelt ist.

Das zu filmende Material wird in diesen 17 Ländern erstellt. In jedem Land wird nur ein Tatort filmisch dokumentiert und die Aussagen der Augenzeugen, Roma wie Nicht-Roma, in immer gleichen Bildausschnitten gefilmt. Der Ort als solcher kann wenig Auskunft geben über das bereits Geschehene, und die Protagonisten schildern jeweils aus ihrer Sicht das Ereignis. Der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen bleibt ungeprüft und unkommentiert, so dass Betrachter letztlich selbst entscheiden muss, welche Meinung er sich über das Geschehen macht. Anstatt einer linearen Erzählung wird die Erzählstruktur in narrative Sequenzen zerlegt, die auf mehrere, im dunklen Raum aufgeteilte Leinwände projiziert werden und damit den Betrachter aktiv in die Erzählfolge einbeziehen.

Umsetzung

Die begehbare Videoinstallation ist in Form einer Raum-im-Raum-Situation im Ausstellungsraum verortet und kann als zweiteilige Arbeit betrachtet werden. Die Maße sind variabel und richten sich nach der Gesamtraumgröße.

Innen

Durch eine Lichtschleuse gelangen die Besucher in das Innere des Raums, welcher ebenfalls komplett schwarz ist. Teile der Wände, der gesamte Boden und die Decke sind mit schwarzem schall- und lichtschluckendem Schaumstoff verkleidet. Gehen auf dem einsinkenden Boden fällt schwer; gleichzeitig lädt er aber auch ein, auf ihm zu ruhen.

Auf überdimensional großen Projektionswänden erscheinen langsam nach einer vorher festgelegten Dramaturgie Aufnahmen diverser Tatorte aus 17 verschiedenen Ländern und Personenporträts vor schwarzem Hintergrund. Die Orte sind bei immer gleichen Lichtverhältnissen und gleicher Perspektive fotografiert. Es sind keine Menschen sichtbar. Nur eine extrem langsame Zeitlupe entlarvt, dass es sich um ein Videobild handelt und lässt dieses zum Leben erwecken. Die ebenfalls formal immer gleich gefilmten Personen blenden langsam ein und aus. Sie erzählen in einer monotonen Stimmlage über die Orte und über die Vorfälle, die mit den Orten verknüpft sind. Eine klare Zuordnung zu den zu sehenden Orten gibt es nicht. Die Erzählungen sind stark fragmentiert, und es sind fast nur Sprachfetzen zu verstehen. Worüber reden die Personen? Handelt es sich um Augenzeugen? Was ist wahr, was ist falsch?

Wie im Außenbereich der Installation werden die Besucher auch im Inneren zu aktiven Akteuren. Je nachdem wie schnell sich die Besucher im Raum bewegen und wo sie sich befinden, werden die Porträts und Tatorte schneller oder langsamer ein- und ausgeblendet. Erzählungen werden unterbrochen oder fortgeführt. Die vorher festgelegte Dramaturgie und Erzählfolge wird durchbrochen und beeinflusst. Ein eindeutiges Muster der Beeinflussung lässt sich jedoch nicht erkennen. Wer beeinflusst und wer wird beeinflusst? Bin ich aktiv oder passiv? Die Besucher, die abgebildeten Personen, die Orte und der sakral anmutende Raum werden zu einer Einheit. Orte werden zu Tatorten und Personen zu Tätern. Oder keines von beiden?

Hearing of - Innen Innen

Außen

Die Außenwände des skulptural anmutenden Raumes sind mit schwarzem Tafellack lackiert. Mit weißer Kreide sind auf diesen in verschiedenen Handschriften Kommentare, Originalzitate und statistische Informationen zu diversen, weltweiten "Roma-Vorfällen" geschrieben. Die Besucher des Roma-Pavillons sind aufgefordert, die bereits konservierten und archivierten Erinnerungen mit eigenen Erfahrungen zu ergänzen und zu kommentieren. Passive Kunstrezeption wandelt sich in eine aktive Handlung, bei der die Besucher an der Arbeit partizipieren und Teil dieser werden.

Im Laufe der Ausstellungsdauer wird sich die Oberfläche des Raums kontinuierlich verändern: Neben einer inhaltlich wachsenden Struktur wird sich auch physisch die Oberfläche verändern. Text in unterschiedlichsten Sprachen wird ergänzt, weggewischt, durchgestrichen; es wird gezeichnet und verändert. Inhaltliche und formale Bewegung entsprechen der Situation der Roma. Welche Texte sind wahr, welche falsch?

Hearing of - Außen Außen

Zum Beispiel: Polizeiliche Misshandlung von Erwachsenen 2000, Abtrennung der Zigeuner-Siedlungen durch Bau meterhoher Mauern in mehreren Gemeinden 2005 und 2009, Plünderung von Lebensmittelgeschäften durch Angehörige der Zigeuner-Minderheit 2004, Übergriffe durch Nazis mit Ku-Klux-Klan-Methoden und mehreren Todesopfern 2008-2010, Misshandlung von Kindern durch die Polizei 2009, die laut Kommentatoren an Abu Ghraib erinnern.

Anmerkung: Das vorliegende Konzept versteht sich als Projektskizze in Arbeit. Je nach inhaltlicher Ausrichtung und Raumsituation des Roma Pavillons, sowie den finanziellen Möglichkeiten, wird es angepasst und ausgearbeitet. Dies nach enger Rücksprache mit den verantwortlichen Kuratoren im nächsten Schritt geschehen.

Alle Rechte bei Autoren.


Email des Kuratoriums Call the wittnes – 2nd Roma Pavilion

Dear Lidija Mirkovic and Dzoni Sichelschmidt,

First of all we want to cordially thank you for submitting your work to the open call for the 2nd Roma Pavilion – Call the Witness, which will be presented in Venice in 2011.

We are happy to inform you that your proposal is among the shortlisted for the Belgrade meeting. We find your work is of high quality and importance and we would be glad if you accept our invitation to take part in the meeting of the most promising contributors in Belgrade.

The selection of the arrived proposals was a really challenging task, taking into account that we've received more than 80 proposals of high professional standards and achievements that were also closely related to our conceptual interests and the theme of the artist - witness.

The final decision of the Collaborative Curatorial Team was made according to the criteria agreed among the curators:

- the Roma background of the artists,
- the quality and contextual relation of the proposal to our concept,
- the conceptual use of the medium,
- the available space.

The meeting in Belgrade will be held 23.-25. May 2010, your travel costs and accommodation will be covered from our side.

During the meeting the artists and other contributors will present their work. There will be time for short presentations and for informal exchange of ideas. Also the curatorial team will introduce their ideas and concept for the Call the Witness Project at the Venice Biennial.

In parallel the proposals of the artists will be discussed individually with the aim to agree about the conditions for the realization of the projects.

Please let us know if you accept our invitation and if you are able to participate in the meeting.

We look forward to hearing from you in the near future,

Best wishes,

Fondly,

Collaborative Curatorial Team
Call the Witness
2nd Roma Pavilion

Anmerkung: Das Konzept wird nicht im Rahmen der 54. Biennale von Venedig umgesetzt.